In das Leben blicken

„Das Ewige regt sich fort in allen
Denn alles muss in Nichts zerfallen
Wenn es im Sein beharren will“ (Goethe; Eins und Alles)

Zum Gehen braucht man nicht viel. Feste, bequeme Schuhe und Alltagskleidung, eine wetterfeste Jacke, bei Regen einen Schirm. Und natürlich muss man sich zum Gehen Zeit nehmen. Als ich noch berufstätig war, bin ich  (fast) jeden Tag den gut vier Kilometer weiten Weg zu meiner Arbeit an einer Adenauer Schule hin und zurück gegangen. Mit dem Auto wäre das bequemer und schneller gewesen, auch mit dem Fahrrad. Aber wer Natur in ihrem Jahreslauf erfahren will, der geht besser zu Fuß. Heute, als Rentner, gehe ich fast täglich, um den Raum um meinen neuen Wohnort in der Eifel zu entdecken und meine Erfahrungen und Kenntnisse zu erweitern.

„Gehen ist die ideale Art der Fortbewegung, wenn man in das Leben der Dinge blicken will“, sinnierte die englische Schriftstellerin Elizabeth von Arnim, die mit einem deutschen Grafen verheitatet war, in ihrer Reiseerzählung „Elizabeth auf Rügen“. Die größte deutsche Ostseeinsel wollte sie 1904 deshalb eigentlich zu Fuß erkunden, aber keiner ihrer potentiellen Begleiterinnen wollte diese archaische Art der Fortbewegung mit ihr teilen. Gehen sei ermüdend und langweilig, so die Reaktionen auf ihren Vorschlag. Die englische Lady bedauerte sehr, dass  auf den Schultern der vornehmen Frau die Klauen des „unerbittlichen Monsters Konvention“ lagen. Sie konnte nicht einfach alleine losgehen, sondern war gezwungen mit der Kutsche und in Begleitung zu reisen. Ihr war schmerzlich bewusst, dass sich die „tausend köstlichen Freuden am Wegrand“ nur dem erschließen, der sich auf Schusters Rappen bewegt.

Dem Fußgänger löst sich das bunte Grün der Wiesen in einer Bachaue auf in die vielfältigen Ensembles der Wiesengräser und Kräuter. Auf dem Weg durch den Wald nimmt er Anteil an einer unglaublichen Vielfalt an Sinneseindrücken, an der Entdeckung eines vielgestaltigen Ökosystems und an den Rhythmen und Zyklen der Natur.

Eine Wiesenlandschaft im Morgennebel sieht nicht nur anders aus als in der Abenddämmerung: Sie riecht und klingt auch unterschiedlich. Meine täglichen Wanderungen erzeugen in mir mehr als ein rein kognitives oder visuelles Bild von Natur. Sie sind weitaus „sinnlicher“.

Als Fußgänger begegne ich abseits der Autostraßen einer unermesslichen Fülle an Leben. Als Kind vom Lande kenne ich etliche Pflanzen und Tiere. Ich kann zum Beispiel verschiedene Gräser unterscheiden: Den Wiesenschwingel mit seinen doppelten Trauben, ebenso den Fuchsschwanz mit den borstigen Scheinähren oder das Rispengras mit seinen feinen Ästen und den festen, spitz zulaufenden Blättern. Mit seinem Blatt kann man den Ruf des Fasans nachahmen, wenn man es zwischen seine zwei Daumen einklemmt und die Schmalseite anbläst.

Aber ich muss mir eingestehen, dass mein Wissen über Gräser und Pflanzen sehr dürftig ist. Auch von den Wiesenblumen weiß ich nur wenig. Die Gewächse in Albrecht Dürers „Großes Rasenstück“ erkenne ich auch in natura wieder, aber die Natur um uns ist vielgestaltiger als wie der Maler sie erfasste.

Das Berichten über „der Erden mannigfalt`ge Pracht“[1] , „der Kreatur Pracht, Schönheit, Farb und Schein“ zu sehen und zu hören „Wie mannigfach, wie süß der Vögel Stimmen seyn, wie lieblich eines Bach´s  Geräusch und Fall“ ist bereits seit der frühen Aufklärung ein Anliegen der Literatur, das diese allerdings nur selten einlöst. Wahrscheinlich deshalb, weil zumindest die deutschen Dichter und Denker mehr mit dem Wesen des Menschen beschäftigt sind als mit dem, was die Alten „Gottes Schöpfung“ nannten.

Ich bin ein Mensch unsrer Zeit. Die Vorstellung der Romantik, dass man sich außerhalb unserer Siedlungsräume „an Gott im Irdischen ergötzen“ könne, teile ich nichtIch will eine zeitgemäße, moderne Darstellung der Natur um uns versuchen, wie ich sie bei meinen Streifzügen jenseits der Dörfer und Städte entdecke. Die Zeit der Mystifizierung von Natur ist vorbei. Heute erklären uns die Naturwissenschaften unsere Welt, aber sie lehren uns nicht, sie zu lieben. Dabei haben sie soviel Faszinierendes zu erzählen über die Kreaturen, ihr Verhalten und ihren Beitrag  zu der großen Symphonie des Lebens .

Von den Bäumen und Sträuchern entlang meiner Wege kenne ich oft wenig mehr als ihren Namen. Dennoch nehme ich auf meinen Wegen Teil an ihrem Leben. Ich sehe, wie sie im Herbst ihre Lebenskraft in die Wurzeln zurückziehen und Blätter und Stängel vertrocknen. Ich beobachte, wie sie im Frühjahr wieder der Erde entwachsen, wie sie blühen, knospen, wie ihre Früchte und Samen heranreifen und wie sie sich auf den Winter vorbereiten. Ich rieche die „Parfums“ der Blumen und Sträucher im Frühjahr und den leichten Modergeruch feuchter Novembertage. Ich staune, welche Vielzahl an Insekten Pflanzen beherbergen, wie Spinnen zwischen ihren Halmen und Stängeln kunstvolle Fangnetze weben, wie Hornissen und Wespen nach Beute jagen, wie Vögel sich von ihren Früchten und Samen ernähren, wie sie jäh von den Messern der Mäher abgeschnitten werden um wieder neu zu wachsen.

Im Winter erwarten die Bäume ruhig das Frühjahr. Sobald der Frost aus dem Boden weicht, werden tief im Baum und in den Wurzeln gespeicherte Reservestoffe mobilisiert und nach und nach in die dünne Haut der Äste verlagert. Sie färben sich je nach Baumart oder Strauch grün, braun, rot und machen sich bereit zum Austrieb der Knospen. Es folgen im wiederkehrenden Rhythmus das Aufspringen der Blüte, die Entfaltung der Blätter, die Entwicklung der Frucht, die Färbung des Herbstlaubs, die Winterruhe.

Ich entdecke, wie sich auf den Stellen, an denen Wildschweine im Winter den Boden auf der Suche nach Nahrung mit ihren Rüsseln  umgegraben haben, im Frühjahr wieder neue Pflanzen ansiedeln, die auf der grünen Vegetationsdecke sonst keine Chance hätten, Wurzeln zu schlagen. Lurche wandern im Frühjahr zur Paarung und zum Laichen in die Weiher. Ich weiß, dass Vögel singen um ihre Partner anzulocken und ihr Revier zu markieren. Noch kann ich ihre Stimmen nicht alle zuordnen, aber ich werde es lernen.

Auf meinen Wegen finde ich unzählige Pflanzen, Insekten, Spinnen, Schnecken, die ich noch nicht kenne. Ich fotografiere sie, um sie dann zu Hause zu bestimmen und darüber zu schreiben.

Das Jahr der Pflanzen beginnt mit der Blüte des Haselstrauchs, den sonnengelben Blütenständen des Huflattichs, den Kätzchen der Salweide, den bereits im Februar aufspringenden zarten Knospen der Kornelkirsche, den Schneeglöckchen, den Schlüsselblumen.  Sie ziehen an den wärmeren Tagen des Vorfrühjahrs die ersten Insekten an und liefern ihnen Pollen und Nektar zur Nahrung und zur Aufzucht der Brut. Lange bevor der große Blütenrausch im April und Mai beginnt, haben sie so ihre Bestäuber gefunden und entwickeln ihre Fruchtstände.

Wenn die Eichen sich belauben und die Ginsterblüte einsetzt, tritt das Frühjahr langsam ab. Noch riecht es in den Buchenwäldern intensiv nach Bärlauch, von dem ich mir gelegentlich ein paar Blätter mit nach Hause nehme.

Ab dem Sommer  blüht  am Wegrand der Dost in großen Horsten. Ich pflücke bis in den Herbst hinein kleine Sträuße von dem wilden Bruder des Oregano, die ich dann zum Würzen in meiner Küche benutze. In den abgemähten Auwiesen, breitet sich im Spätjahr die Herbstzeitlose aus. Ihre zarten, blasslila Blüten, die an Krokusse erinnern, sind bei aller Schönheit eine tödliche Gefahr für das Weidevieh. Wenn der Bauer sie nicht mit geeigneten Maßnahmen bekämpft, ist selbst das Heu von solch extensiv bewirtschafteten Flächen vergiftet.

Blühbeginn, Blattentfaltung, Fruchtreife und Blattfärbung der Pflanzen begleiten mich auf meinem Wegen. Auch die Entwicklung der Tierwelt erschließt sich mir.

Zu Fuß unterwegs sein hat etwas sehr angenehm Kontemplatives. Zum Verstehen brauche ich keine Metaphysik sondern ein Verständnis für Zusammenhänge.  Jeden Tag auf meinem Weg durch die Natur entdecke ich das zyklische Zusammenspiel von Leben und Sterben. Ich sehe den Boden, beobachte und verstehe, dass er entsteht, weil tausende Organismen das, was stirbt wieder aufbereiten zur Grundlage für neues Leben.

Mich erinnert das an Walt Whitmans „Gesang von mir selbst“:  „Meine Zunge, jedes Atom meines Blutes ist aus diesem Boden gebildet und aus dieser Luft.“ Und auch ich bin ein endlicher Organismus in diesen Zyklen aus Leben, Wachsen und Sterben. Das Fazit des Dichters spendet mir Trost: „Und Leiche, was dich betrifft, so denke ich, du gibst einen guten Dünger; doch ist mir das nicht anstößig. … Und Leben, was dich betrifft, so glaub‘ ich, du bist das Resultat von vielen Todesfällen „.

Ich beobachte den Kampf der Bäume um das Licht, lerne, was Pflanzen mir über die Beschaffenheit der Böden und der Luft anzeigen. Ich entdecke die Spuren der Menschen in der Landschaft. Wege erzählen mir ihre Geschichten, die Wälder auch, die Bäche, verlassenen Steinbrüche. Die Landschaft selbst und ihre Topografie berichten vom ewigen Wandel in der Natur.

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