Von der Schwierigkeit Natur zu beschreiben

Sucht man nach Spuren, wann die ersten Dichter die Natur zu ihrem Sujet gemacht haben, stößt man auf den spätmittelalterlichen italienischen Dichter Francesco Petrarca. Mit seiner großartigen Schilderung einer Bergbesteigung des Mont Ventoux schuf er wohl die erste echte Landschaftsbeschreibung der europäischen Literatur. Nachdem ein Schäfer den Dichter gewarnt hat, er werde wie er nichts zurückbringen als „Reue und Mühsal, Leib und Gewand zerrissen von Steinen und Gedörn“ wagt der Dichter dennoch den Aufstieg. Und er wird belohnt, als er den Gipfel erreicht.

„Zuerst von ungewohntem Zug der Luft und dem freien Schauspiel ergriffen, stand ich wie ein Staunender – ich schaue zurück: da lagerten die Wolken zu meinen Füßen. Schon erschien mir minder fabelhaft der Athos und Olympus, da ich das, was ich von jenen gehört und gelesen hatte, an einem minder berühmten Berge erschaue.
Hernach wende ich den Blick nach der italienischen Seite, wohin sich ja am meisten die Seele neigt: starr und schneebedeckt und ganz in meiner Nähe erschienen mir die Alpen, durch welche einst jener wildeste Feind des römischen Namens sich einen Durchgang bahnte und, wenn der Sage zu glauben, mit Essig die Felsen sprengte – und doch sind sie ein Beträchtliches von hier entfernt. Ich seufzte, ich gestehe es, nach Italiens Himmel, der mehr meiner Seele als meinen Augen erschien, und eine unsägliche Sehnsucht, Freunde und Vaterland wiederzusehen, befiel mich…“

Doch das Fazit, das der Dichter aus dem grandiosen Ausblick, den er vom Gipfel des Berges aus hat zieht, ist ernüchternd. Ihm fällt der Satz des Kirchenlehrers Augustinus ein: „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.“ – und verbindet es mit der Mahnung, der Mensch solle angesichts einer überwältigenden Natur bedenken, „dass nichts bewundernswert ist außer der Seele: Neben ihrer Größe ist nichts groß“.

Vielleicht liegt es ja an der philosophischen und literarischen Suche nach der Seele und dem Wesen des Menschen, der man den Vorzug vor der Bewunderung des Irdischen gegeben hat, dass es den Dichtern bis heute schwer fällt das Wissen über die  Natur der Schöpfung zum Gegenstand von Literatur zu machen.

Zumindest in der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte haben das Erleben von Natur und das Leben in der Natur keine Tradition. Im Amerikanischen ist das anders. Die literarische Erschließung der nordamerikanischen Wildnis haben so großartige Autoren wie James Fennimore Cooper, Jack London, John Muir und Henry David Thoreau aufgegriffen und den Stoff, den ihnen die Wildnis bot, zur Weltliteratur gemacht.

Die Tradition des „Nature Writing“ ist im amerikanischen Kulturraum bis heute ungebrochen. Im Deutschen gibt es für den Begriff  nicht einmal eine Entsprechung. Dabei klingt es doch schon sehr nach einem Neubeginn der literarischen Auseinandersetzung mit der Natur jenseits der Natur des Menschen, wenn der junge Schiller 1779 in seiner „Philosophie der Physiologie“ schreibt: „Der Mensch ist bestimmt zur Überschauung, Forschung, Bewunderung des großen Plans der Natur“.  Das klingt gut. Doch wie weit hat es der Dichter in seiner Beschreibung und in seinem Verständnis von Natur gebracht? Kommt er über die Beschreibung von Natur als Landschaft hinaus und wendet sich der Fülle des Lebendigen zu, die ihn dort erwartet?

In seiner Elegie „Der Spaziergang“ aus dem Jahr 1795 entführt Friedrich Schiller seine Leser aus des „Zimmers Gefängnis“ in eine idyllische Sommerlandschaft. In wundervollen Distichen vermittelt der Weimarer Dichterfürst uns die Begeisterung des Wanderers über die frohe Lebendigkeit der sinnlich erlebten Natur.

„Kräftig brennen auf glühender Au die wechselnden Farben,
Aber der reizende Streit löset in Wohllaut sich auf.
Frei empfängt mich die Wiese mit weithin verbreitetem Teppich;
Durch ihr freundliches Grün schlingt sich der ländliche Pfad.
Um mich summt die geschäftige Bien‘, mit zweifelndem Flügel
Wiegt der Schmetterling sich über dem röthlichten Klee.“

Bei aller Empathie für die durchwanderte Landschaft steigt der Dichter allerdings nur wenig über die Topoi überlieferter Naturbeschreibungen hinaus. Seine Wahrnehmungen der Wiese sind reduziert auf ein freundliches Grün, das sich wie ein Teppich vor ihm ausbreitet. Das einzige botanische Detail, das er anspricht, ist der rötliche Klee, das Faunistische ist beschränkt auf „die geschäftige Bien“ und den sich wiegenden Schmetterling.

Und wenn er dann weiterwandert durch die „ambrosische Nacht“ des Waldes, an dessen Ende des „grünlichten Stroms fließender Spiegel“, das „blaue Gebirg‘ “ und der „Äther, über mir endlos“ liegt, findet sich wenig von der von einem Dichter erwarteten Originalität der Naturdarstellung. Diese Gemeinplätze gibt es schon seit der antiken Literatur. Solche Sprachschablonen sind bis heute die gängigen Textbausteine in der Tourismuswerbung geblieben.

Schillers Spaziergänger Elegie ist nicht das einzige Beispiel für eine ziemlich rudimentäre, reduzierte und seit der Antike recht konventionell gebliebene Naturbeschreibung. Von Schillers Zeitgenossen fällt mir nur Alexander von Humboldt ein, der Naturforschung und literarische Darstellung vereinen konnte. Seine Schilderungen in seinem Hauptwerk „Kosmos“ geben dem Leser ein lebendiges Bild von der Natur Venezuelas und der Verhältnisse am Orinoco, aber leider nur von dort. Es finden sich wenige Autoren, die es schaffen, unsere heimischen Landschaften literarisch darzustellen, ohne dabei die wissenschaftliche Objektivität zu verlassen und sich in schwärmerischer Naturseligkeit und retroromantischer Naturmagie zu verlieren.

Aber wenn es den Dichtern nicht gelingt, in uns den Respekt und die Liebe für die Natur zu wecken, dann gilt das leider auch im gleichen Maß für die Wissenschaften. Vom alten Goethe stammt der Satz: „Die Deutschen, und nicht nur die, besitzen die Gabe die Wissenschaften unzugänglich zu machen“ – Und das liegt nicht allein an der Komplexität des jeweiligen Forschungsinteresses, sondern das ist vor allem auch ein Kommunikationsproblem.  Ich lese häufig in wissenschaftlichen Texten zu Themen, die mich interessieren, und das ist jedes Mal ein hartes, trockenes Brot.

Dabei erstaunt es mich immer wieder, wie ungeheuer groß unser kollektives Wissen von Natur ist und wie wenig davon bei den meisten Menschen in meiner Umgebung vorhanden ist.

Vielleicht liegt es ja an der reinen Fülle der Spezies, die uns das Erfassen der Welt, die uns außerhalb unserer häuslichen und beruflichen Umgebung begegnet, so schwer macht, dass wir es gar nicht erst versuchen.  Allein in Deutschland sind etwa 71.500 Arten nachgewiesen. Weltweit sind derzeit etwa 1,8 Millionen Arten (Tiere, Pflanzen und Pilze) beschrieben. Eine vollständige Inventur der gegenwärtig auf der Erde lebenden Arten ist für die Wissenschaft derzeit nicht realisierbar. Bei den bislang nur wenig untersuchten Artengruppen ist zu befürchten, dass viele Arten noch vor ihrer Entdeckung ausgestorben sein könnten.

Natürlich kann man nicht die ganze Artenvielfalt in dem Raum erwarten, in dem ich täglich meine kleinen Fußwanderungen unternehme. Die Vegetation in diesem Teil der Eifel, den ich täglich begehe, hängt ja wesentlich ab von den Böden und den kleinklimatischen Bedingungen und vor allem auch von der menschlichen Nutzung. Ich bewege mich ja schließlich nicht in einer Naturlandschaft, sondern in einer Kulturlandschaft, der der Mensch seit Jahrhunderten seinen Stempel aufgedrückt hat.  Das was ich hier finde, sind bestenfalls noch Reste der ursprünglichen Wildnis Eifel, wie sie die Menschen vor der Besiedlung seit der Römerzeit vorgefunden haben, durchwoben mit zum Teil exotischer Flora und Fauna. Autochthon, also einheimisch in dem Sinne, dass sich die Vegetation und die Tierarten der Eifel in ihrer ursprünglichen Form natürlich entwickelt hätte, sind weder das Pflanzenkleid der Eifel noch ihre tierischen Bewohner.

Auch an eine systematische Darstellung von Natur ist gar nicht zu denken. Das zoologische Institut der Uni Köln hatte in den 1990er Jahren Studenten in der Gemarkung Gönnersdorf bei Jünkerath eine Inventarisierung der Fauna machen lassen. Dabei wurden über 1800 Tierarten allein für diesen Ort nachgewiesen. Allein das Benennen und Identifizieren der Makroorganismen, die mir auf meinen Entdeckungsgängen auffallen, wäre schon eine wahre kognitive Herkulesaufgabe, die ich mir nicht zutraue, geschweige denn eine Einordnung der jeweiligen Spezies in den allgemeinen ökologischen Zusammenhang mit anderen Arten und den räumlichen Gegebenheiten, die ich hier antreffe.

Meine Beschreibungen und Beobachtungen orientieren sich deshalb an dem, was ich noch nicht kenne und dem, was ich wieder neu entdecke. Darunter werden dann auch solche Allerweltspflanzen sein wie der Löwenzahn, von dem ich wenig mehr weiß, als seinen Namen und dass man alle seine Pflanzenteile essen kann. Meine Beschreibungen von Restnatur können nur Stückwerk bleiben.

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ meint Witgenstein. Beim Gang durch die Landschaft erkenne ich, wie wenig ich von dem, was ich bisher übersehen habe, überhaupt richtig benennen kann.

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