In meinem Garten wächst ein alter Sauerkirschbaum. Jedes Frühjahr erfreut er mich mit seiner Blütenpracht. Meine Honigbienen sind nicht die einzigen Gäste des Obstbaums. Wie er da steht in seiner üppigen Blüte ist er eine wunderbare Insektenweide, auf der zahlreiche Fluginsekten, die jetzt nach Pollen und Nektar suchen, sich ein Stelldichein geben. Wenn ich Zeit habe, beobachte ich die vielen Insekten bei ihrem Treiben. Und in diesem Jahr entdecke ich neben zahlreichen Wildbienen und Schwebfliegen ein sonderbares Insekt, das ich bisher noch nicht bewusst wahrgenommen habe.
Die Anatomie des Fluginsekts wirkt grotesk wie eine überzeichnete Trickfilmfigur von Biene Majas Klatschmohnwiese. Sein pummeliger, birnenförmiger, dicht bepelzter Körper, erinnert an eine fliegende Wollfluse. Ruhig steht das Tierchen im Schwirrflug in der Luft wie ein Kolibri und saugt mit einem überdimensionierten Rüssel Nektar an den weißen Kirschblüten. Seine raschen Flügelschläge erzeugen ein ziemlich lautes Brummen. Manchmal greifen seine Vorderbeine nach den Blütenblättern, während das hintere Beinpaar eng an seinen rundlichen Körper angelegt ist. Kommt man ihm zu nahe, dann schwirrt es in einem raschen Zickzackflug ab zu weiter entfernten Blüten.
Zuerst habe ich das Insekt für einen mir unbekannten Falter oder eine Wildbiene gehalten. Doch das war die falsche Fährte. Ein befreundeter Schmetterlingsfreund kann mir weiterhelfen.
Ich erfahre, dass das Insekt trotz seines hummelartigen Aussehens und seines auffälligen Flugverhaltens eine Fliege mit dem Namen „Großer Wollschweber“ ist. Selten ist der „Bombylius major“, so lautet der wissenschaftliche Name dieser großen Fliege nicht.
Seine Zweiflügligkeit, die alle Fliegenarten kennzeichnet, konnte ich bei den schnellen Flügelschlägen gar nicht erkennen. Dieses Merkmal kann man bestenfalls an einem ruhenden Exemplar der Fliege entdecken, zum Beispiel an einem Männchen, das im Standby-Modus auf einem Ast sitzend, sein Begattungsrevier bewacht.
Der lateinische Name zeigt mir, dass ich nicht der erste bin, der dem Eindruck erlegen ist, es handele sich um eine Art Hummel, lateinisch „bombus“. Die Adjaktivendung “ -„ylius“ wäre zu übersetzen als „wie eine“ Hummel. Zum Hummelverdacht passt auch das laute Brummen, das durch die rasch oszillierenden Flügel hervorgerufen wird. In den Volksnamen „Hummelschweber“ oder „Hummelfliege“ sind diese Merkmale gut dokumentiert.
Auch ein anderer Trivialname für das Insekt, „Trauerschweber“, beschreibt das Aussehen des Zweiflüglers zutreffend. Die breite, dunkle, nach hinten gezackten Binde am Vorderrand seiner sonst transparenten Flügel, erinnert durchaus an einen Trauerflor, den man früher zum Ausdruck des Mitgefühls gegenüber einem Verstorbenen trug.
Die Tatsache, dass die auffällige Fliege an den Kirschblüten Nektar tankt, verleitet zu dem Schluss, dass sie eine eigentlich harmlose Kreatur ist, die den süßen Saft der Pflanzen dem Blut von Tieren vorzieht. Doch ganz so nett, wie sie aussieht, ist die Fliege nicht. Gemessen an menschlichen Moralmaßstäben ist der Wollschweber ein wahrer Wolf im Schafspelz.
Als ausgemachter Brutparasit lässt das Insekt andere für seinen Nachwuchs sorgen. Seine reiskorngroßen Eier wirft der Wollschweber gezielt ab in die Nähe der Nesteingänge von im Boden nistenden Solitärbienen, vor allem von Erd- bzw. Sandbienen . Das Fliegenei wird nach dieser etwas unsanften Ablage mit Sand eingepudert, wohl um es vor Austrocknung zu schützen. Nach wenigen Tagen schlüpft daraus eine sehr beweglich Larve, die vom Duft ihrer hilflosen Opfer angelockt in die Nisthöhlen der Wildbienen kriecht. Hier verfuttert sie zunächst den Pollenproviant der Bienenlarve und ernährt sich dann als fette Made von der heranwachsenden Larve selbst. Satt gefressen verpuppt sie sich danach, um in der ursprünglich nicht für sie bestimmten Nisthöhle zu überwintern. Die pummeligen, fertigen Fliegen schlüpfen ab März, um dann wieder ihren ungewöhnlichen Lebenszyklus neu zu beginnen.
Im Fall des Wollschwebers fällt es mir schwer, in diesem brutalen Brutparasitismus den evolutionären Sinn zu erkennen, da er auf die Zerstörung der Wirtslarve hinausläuft. Normalerweise gilt es unter Biologen als ausgemacht, dass ein Parasit seinen Endwirt nicht tötet. Der Wollschweber macht da wohl eine Ausnahme.
„Unfühlend ist die Natur“ schreibt Goethe. Recht hat er. Das Leben in der Natur ist grausam, oder kann grausam sein. Auch der Große Wollweber wird am Ende das Zeitliche segnen, vermutlich als Vogelfutter.