„Birding“ heißt ein neues Trendhobby, das aus England stammend den europäischen Kontinent erobert. Worum geht es dabei? „Hinschauen, Vogel sehen, freuen, fertig.“ beschreibt es das Ratgeberbuch „Birding für Ahnungslose“. Für den fortgeschrittenen Birder geht es aber um mehr als nur sehen und freuen. Wie bei der klassischen Jagd muss man sich anpirschen oder geduldig abwarten können, um dann mit seiner Hightech-Ausrüstung (Digitalkamera, Smartphone) zum visuellen Abschuss zu kommen. Die zugegeben oft tollen Vogelbilder werden dann auf Insider-Blogs oder in sozialen Netzwerken als digitale Trophäen gepostet.
Und es geht um Rekorde. Der Weltrekord im Vogelgucken liegt bei 9600 Vogelarten. Und wenn irgendwo eine seltene Vogelart entdeckt wird, dann spurtet man los, um ja sein persönliches Ranking zu verbessern, egal wie weit man anreisen muss.
Nun ja, wenn es gefällt? Meine Sache ist diese urbane Annäherung an Natur nicht, sie ist mir zu oberflächlich, ein weiterer Ego-Trip, mit dem man sich selbst interessant macht, der aber bei der Problematik des Artenverlustes nicht wirklich weiterhilft. Vögel schützen, damit mein Ranking sich verbessert, was soll das denn?
„Über die Natur kann man nie genug wissen in einer Zeit, in der büromüde Menschen zum Ausgleich wie wild gärtnern und sogar das Hobby Fliegenfischen zum Angeben taugt.“ kommentiert die Welt. Aber weiß man etwas über Natur, wenn man sich auf diese Art von Vogeljagd begibt?
Die gut 10.000 Vogelarten weltweit sind ja nur ein marginaler Teil der weltweiten Artenvielfalt. Und das Sichten und korrekte Bestimmen einer Vogelart liefert ja nicht unbedingt schon ein Verständnis für die Tatsache, dass jeder Vogel in zahlreichen (synökologischen) Beziehungen zu seinem Lebensraum und den darin heimischen anderen Tierarten und Pflanzen steht.
Auch ich nutze meistens mein Smartphone, um Tiere und Pflanzenaufnahmen zu machen, und ich teile meine Bilder auch gerne mit anderen. Aber ich möchte dabei immer auch meine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse mit den beschriebenen Spezies verbinden und mitteilen. Es geht mir nicht um Rekorde, es geht mir um Aufklärung.
Das nebenstehende Bild einer Kohlkratzdistel und einer Baumhummel habe ich bei einem Wochenendausflug nach Bayern aufgenommen. Mit den beiden Arten habe ich mich bis dahin noch nie beschäftigt. Sie sind eine reine Zufallsbekanntschaft und bis zum Zeitpunkt der Aufnahme habe ich sie als Arten in der biologischen Vielfalt nicht wahrgenommen.
Kratzdisteln gehören zu den Korbblütlern. Die Gattung umfasst weltweit etwa 200 verschiedene Arten. Die abgebildete Kohlkratzdistel, man nennt sie auch einfach Kohldistel, ist nach unserem heutigen am Nutzen orientierten Naturverständnis “wertlos”. Sie taugt nicht als Futterpflanze und wir haben längst vergessen, dass diese Distelart eine alte Gemüsepflanze ist. Ihr Blütenboden, ihre Blätter und der Wurzelstock sind zwar essbar, aber es darf bezweifelt werden, dass es in Deutschland viele Menschen gibt, die sie tatsächlich als Essensbeilage zubereiten.
Unter den 300.000 Rezepten einer großen Kochseite im Internet findet sich kein einziges Distelrezept, mal abgesehen von den Artischockengerichten. Und als Heilpflanze genießt “Cirsium oleraceum”, wie sie unter Botanikern benannt wird, auch keinen Ruhm. Der erste Namensbestandteil lässt zumindest vermuten, dass die Distel einmal als Heilmittel gegen Krampfadern genutzt wurde, der zweite teilt uns mit, dass sie „kohlartig“ ist.
Die aufsitzende Baumhummel, die hier nach Nektar oder Pollen sucht, gehört zu einer Insektengattung mit ca. 250 Arten weltweit. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Verwandten lebt sie nicht in Erdlöchern, sondern richtet sich in oberirdischen Höhlungen ein, gelegentlich auch in verlassenen Vogelnestern oder in Nistkästen.
Einmal mehr bestätigt sich wieder meine Einsicht, dass wir selbst in unserem Wissenschaftszeitalter immer noch sehr wenig wissen, wenn es um andere Kreaturen geht. „Was wir wissen, ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, ein Ozean!“ (Isaac Newton). Ganz im Gegenteil, der Tropfen wird zunehmend kleiner, je mehr wir uns jenseits des akademischen Spezialistentums von Natur entfernen.
Warum ist das so und woran liegt das? Sind Schulen und Unis an der Erosion des Pflanzenwissens schuld?
In einem Experiment, das ich gelegentlich mit meinen Schülern gemacht habe, habe ich ihnen Dürers “Großes Rasenstück” vorgelegt und sie gebeten, mir die auf dem Aquarell abgebildeten Pflanzen zu nennen. Die meisten haben den Löwenzahn identifiziert. Immerhin, möchte man sagen.
Untersuchungen zum Naturwissen von Kindern haben immer wieder belegt, dass dieses ziemlich dürftig ist. Bei Schweizer Grundschülern hat man festgestellt, dass sie bei der Benennung von Pflanzen selten über die Sammelbezeichnungen Blume, Gras, Baum hinaus kommen. Auch englische Schulkinder können nur zu 50 % Allerweltspflanzen wie die Sonnenblume oder die Eiche oder Tierarten wie Dachs und Wildschwein richtig identifizieren.
An der Auffassungsgabe oder der Merkfähigkeit der Kinder kann das nicht liegen. Der Pokemon-Kosmos mit seinen 700 Spielcharakteren schneidet deutlich besser ab als die belebte Welt. Bis zu 78% der Trickfilmfiguren konnten richtig von Kindern erkannt und benannt werden.
Bei den meisten Erwachsenen sieht es wahrscheinlich ähnlich dürftig aus, wenn es um Naturkenntnisse geht.
Oder sind es psychologische Ursachen, die dafür verantwortlich sind, dass wir so wenig von den Pflanzen und den Tieren wissen? Sowohl zu Pflanzen als auch zu Insekten haben viele Menschen ein gestörtes Verhältnis.
Pflanzen sind für uns eine anonyme grüne Masse ohne Individualität. Wir sehen die Bäume vor lauter Wald nicht. Selbst eine Blumenwiese wird von den meisten Menschen nur als „Gras“ wahrgenommen. Außer den Gemüse- und Obstsorten im Standardsortiment unserer Supermärkte kennen wir noch nicht einmal die Sortenvielfalt unserer Kulturpflanzen. Äpfel zum Beispiel erscheinen uns nur noch als die übliche Handvoll an Modefrüchten, dabei gibt es allein in Deutschland über 1500 Sorten, die noch angebaut werden. Von wirtschaftlicher Bedeutung sind davon heute nur noch etwa 60 Sorten, Tendenz fallend.
“Von Pflanzen geht keine aktive Bedrohung aus, sie bewegen sich nicht, in der Regel nehmen wir sie als Masse und nicht als Individuen wahr.” erklärt uns die Psychologie und fasst dieses Phänomen in den Begriff der “Plant Blindness”. Wir sind also “Pflanzenblinde”, die für die meisten Gewächse nur eine verkümmerte Wahrnehmung haben.
Die Beziehung zwischen Menschen und Insekten ist noch gestörter. Naturferne Menschen entwickeln häufig sogar eine ausgesprochene Angststörung, wenn sie in Kontakt zu dieser Tiergruppe kommen, eine sogenannte Entomophobie. Sogar Schmetterlinge, die ja von den meisten Menschen wegen ihrer oft auffälligen Flügelzeichnung als “schön” empfunden werden, verursachen bei vielen Menschen Panikattacken.
Gegen solche irrationalen Ängste empfehlen Psychologen eine kognitive Verhaltenstherapie. Dabei geht es darum, die Einstellungen, Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen der Patienten gewissermaßen umzupolen.
Dabei kann zum Beispiel die Einsicht helfen, dass doch kaum etwas alltäglicher ist als die Gegenwart von Pflanzen. Pflanzen geben uns die chemischen Baupläne für zahllose Medikamente und Ideen für unsere Produktdesigns. Pflanzen liefern wertvolle Rohstoffe. Die Energieträger Kohle, Erdöl, Erdgas sind nichts anderes als fossile Pflanzenreste. Ohne Pflanzen gäbe es kein Leben auf der Erde. Sie liefern direkt oder indirekt, die Biomasse für unsere Ernährung. Last but not least, Pflanzen vollbringen die mit Abstand wichtigste Stoffwechselleistung auf der Erde, die Photosynthese.
Das gleiche gilt für die Insekten. Das Kind, das im Spätsommer behauptet, von “einer Biene” gestochen worden zu sein, weil es auf dem Pausenhof sein Hefeteilchen isst, hat mit allergrößter Sicherheit mit einem Wespenstachel Bekanntschaft gemacht.
Bei den Insekten wäre herauszuarbeiten, dass sie wichtig sind als Bestäuber. Jeder dritte Bissen, den wir zu uns nehmen, verdanken wir ihnen. Und nicht nur das. Ameisen zum Beispiel sorgen für die Ausbreitung vieler Pflanzen. Der Mistkäfer oder die Maden der Schmeißfliege arbeiten dafür, dass die Verdauungsprodukte größerer Tierarten schnell wieder in den natürlichen Stoffkreislauf geraten.
Als artenreichste Tiergruppe mit der höchsten Regenerationsrate sind Insekten in allen Entwicklungsstadien Nahrungsgrundlage der so genannten „höheren“ Tiergattungen wie Vögel, Amphibien, Kleinsäuger. Bald werden Insekten eine wesentliche Proteinquelle für die menschliche Ernährungssicherheit sein. Aber nicht die Masse der Insekten ist es, die beeindruckt. Die Leistungen der größten Tierfamilie sind unverzichtbar für das Leben auf der Erde.
Aber vielleicht ist ja die ungeheure Artenvielfalt im Reich der Pflanzen und der Insekten schuld daran, dass wir uns nicht mit ihnen beschäftigen. Wie heißt es in dem oben erwähnten Birding-Ratgeber so lapidar wie treffend: „Insekten sind klein, aber alles andere als harmlos. Wer sich an diese fummeligen und frustrierend vielfältigen Tiere wagt, will es wirklich wissen.“
Fürchten wir uns vor einer kognitiven Überforderung, wenn wir uns auf diese Artenvielfalt erst einmal einlassen?
Käme man auf die Idee einen Kalender mit dem Thema “Pflanze des Monats” herauszugeben, könnte man die nächsten 42.000 Jahre auf Wiederholungen verzichten. Noch vielgestaltiger und formenreicher ist das Reich der Insekten. Für einen “Insekt des Monats-Kalender” hätte man für mindesten 80.000 Jahre Material. Und laufend werden noch neue Arten bekannt. Die Zahl der bisher unentdeckten Insektenarten schätzen die Forscher mindestens auf das Dreifache.
Und noch ein Grund für unser dürftiges Allgemeinwissen in Bezug auf Artenkenntnis fällt mir ein: Warum sich mit Dingen beschäftigen, die für uns keinen unmittelbaren praktischen Nutzen haben?
Mit unserer Kultur haben wir uns eine Ersatz-Natur geschaffen, einen Kosmos der Dienstleistungen und der technischen Möglichkeiten, in denen wir eher darauf angewiesen sind Handyapps richtig zu bedienen als uns mit Natur auszukennen. Die Zeiten sind passé, in denen praktisches Naturwissen überlebenswichtig war.
Bis in die Neuzeit hinein hätten wir uns eine solche Haltung nicht leisten können, weil individuelle Naturkenntnisse überlebenswichtig waren. Untersuchungen an der Gletschermumie aus den Ötztaler Alpen belegen ein Pflanzenwissen, das jeden Bachelor in Biologie in den Schatten stellen würde. Ötzi hat vermutlich noch 1500 Pflanzen auf seinem Speiseplan gehabt. Sein Naturwissen war jedoch nicht nur auf seine Ernährung beschränkt. Allein seine Ausrüstung zeigt, dass er auch über die aus der Natur gewonnenen Materialien und deren besonderen Eigenschaften Kenntnis hatte.
Ötzis Schuhe waren mit getrockneten Süßgräsern (Fieder-Zwenke und Borstgras) gepolstert, das Leder des Innenschuhs mit gezwirntem Gras zusammengenäht. Seinen Bogen hat er aus Eibenholz gefertigt, seine Pfeile aus den Ästen des wolligen Schneeballs, die Pfeilspitzen und die Befiederung waren mit Pflanzenfasern gebunden und mit Birkenpesch verklebt.
Der Griff seines Dolches war aus Eschenholz geschnitzt, seine Rückentrage aus Haselholz war mit Lindenbast zusammengebunden. Ötzi führte drei Dosen aus Birkenrinde mit sich, eine davon war eine Glutdose zum Tragen von glühender Holzkohle, die in frisch gepflückte Blätter des Spitzahorns gewickelt war. Zunder und mitgeführtes Pyrit waren sein Feuerzeug, Birkenporlinge, die gegen Magenbeschwerden und Wurmbefall ausgekocht wurden, waren seine Apotheke.
Ötzis Henkersmahlzeit bestand aus fettem Steinbockfleisch und Einkorn als zusätzliche Sättigungsbeilage (Einkorn galt als Vorläufer von Emmer, Dinkel und Saatweizen ). Zudem enthielt sein Magen Spuren eines giftigen Farns, mit dem er möglicherweise seine festgestellten Magenprobleme behandeln wollte.
Heutzutage ist ein solches Wissen bestenfalls noch für “Prepper” interessant. Wichtiger ist, dass wir wieder erkennen, dass wir in einem ganz anderen Abhängigkeitsverhältnis zur Natur stehen als die Menschen früherer Zeiten. Dringender als die Nutzung der Ressourcen, die uns die lebendige Umwelt bietet, ist die Aufrechterhaltung der überlebenswichtigen Prozesse, die sich in einer von Artenvielfalt bestimmten Umwelt abspielen.