Kleider machen Leute

Wofür wir kein Wort haben, das nehmen wir auch nicht wahr. Für die Blattwespenart Tenthredopsis litterata gibt es, obwohl sie relativ häufig vorkommt, nur den wissenschaftlichen Namen. Während wir für Arten wie den Marienkäfer gleich Dutzende Bezeichnungen haben, gibt es für dieses Insekt in unserer Sprache keinen sogenannten Vulgärnamen.

Was den französischen Botaniker Geoffroy (1785) bewogen hat, diese Wespenart sinngemäß „gelehrte Blattwespe“ zu taufen, kann man sich weder aus der Erscheinung noch aus dem Vorkommen oder dem Verhalten des Tieres herleiten. Im Englischen nennt man das Insekt übrigens „gemeine Sägefliege“ (common sawfly). Aber auch aus dieser Wortschöpfung lassen sich keine Rückschlüsse auf den Namensgrund ableiten.

Der berühmte schwedische Naturforscher Karl von Linné hat das Insekt Tenthredopsis carbonaria getauft. Übersetzt könnte man vielleicht kohlschwarze Blattwespe sagen. Linné hatte mit seiner Namensgebung eindeutig nur das Weibchen vor Augen, das weitaus weniger auffällig ist als der männliche Schönling im Bild. Bei ihr sind Kopf und Brustschild schwarz. Auch der Hinterleib des weiblichen Insekts kann bei dieser Art schwarz sein, manchmal ist er aber auch bernsteinfarben oder er zeigt beide Farben. Worin liegt der evolutionäre Sinn der viel auffälligeren Färbung der männlichen Imago dieser Insektenart? Warum trägt das weibliche Insekt eher ein Tarnkleid und das Männchen ein Warnkleid?

Wenn das Männchen von Tenthredopsis litterata mit seinem Kostüm eine Echte Wespe imitiert, ist das dann ein klarer Fall von Mimikry, mit dem das harmlose Tierchen gefährlich wirkt? Oder ist die auffällige Gestalt ein optisches Signal an das Weibchen? Auch im Insektenreich machen Kleider vielleicht Leute.

Die „Echten Blattwespen“ bilden innerhalb ihrer weitläufigen Verwandtschaft der Wespen eine Insektenfamilie mit weltweit 9000 Arten, von denen allein in Mitteleuropa 900 Arten heimisch sind.

Ich habe das schöne Tier auf einem meiner ausgedehnten Naturspaziergänge an einer Feldhecke entdeckt. Offenbar gehört es zu einer der vielen Insektenarten, von denen auch die Wissenschaft wenig mehr weiß als den Namen.

Die Larve der Wespenart ähnelt der eines Schmetterlings und entwickelt sich am Knäuelgras. Das fertige Insekt (Imago) ernährt sich vorzugsweise von den Blättern von Sträuchern und Laubbäumen.

Blattwespen können nicht stechen.

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