Es gibt im Deutschen Wörter, deren Herkunft nicht so leicht zu erklären ist. Selbst großen Sprachforschern wie den Gebrüdern Grimm erschien das Wort “Kinkerlitz” als ein „merkwürdiges Volkswort“, für das sie lediglich die Bedeutung im Sinne von “Kleinigkeit” feststellen konnten.
Aber wenn man dabei den ersten Vokal anders ausspricht, dann wäre das ein Kankerlitz, und mir fällt ein, was ich mal irgendwann irgendwo aufgeschnappt habe: Wenn früher eine Hochzeit bevorstand, luden sich die Brauteltern gegenseitig ein zum näheren Kennenlernen. Bei solchen Aufwartungsbesuchen sollen vor allem die künftigen Schwiegermütter in die Ecken der Zimmer geguckt haben, ob sie hier kleine Spinnennetze entdecken konnten. Das ließ Rückschlüsse auf die Sauberkeit und die Ordnungsliebe der künftigen Schwiegertöchter zu und soll mitunter keineswegs als belanglose Kleinigkeit durchgegangen sein.
Wenn sich also hinter dem “Kinker” ein “Kanker” verbirgt, der seine feinen Gewebe, die Litzen, zum Insektenfangen in die Winkel der Räume gespannt hat, könnte man sich einen Reim auf die seltsame Wortzusammensetzung machen. Denn Kanker ist ein altes Wort für Spinne.
Heute ist die Bezeichnung „Kanker“ auf ein Tierchen verengt, das in meiner Region als Weberknecht bekannt ist. Schneider oder Opa Langbein, Habermann, Mähder oder Waldschreit sind weitere regionale Bezeichnungen für das Geschöpf aus der Gruppe der “Spinnenartigen”. Die Begriffe nehmen meistens Bezug auf das auffällig magere Erscheinungsbild des Achtbeiners mit seinen im Verhältnis zur Körpergröße extrem langen und dünnen Beinen.
Wenn man genauer hinsieht, fällt als Erstes auf, dass der Kanker mit seinem linsenförmigen Körper sich anatomisch von den Spinnen dadurch unterscheidet, dass sein Vorderleib mit dem Hinterleib verwachsen ist.
Dem Weberknecht die Schuld für das angedeutete Schwiegermutterproblem zu geben, wäre jedoch falsch, zumindest streng biologisch bewertet. Es stimmt zwar, dass man ihn gelegentlich auch als Hausinsekt begrüßen kann, aber für die Spinnweben in Zimmerecken trägt er im Gegensatz zu einer potentiellen Schwiegertochter keine Verantwortung. Denn ein Kanker im heutigen Sprachgebrauch kann überhaupt keine Netze spinnen, weil er gar keine Spinndrüsen hat, um das Garn für seine vermeintlichen Kinkerlitzchen zu produzieren.
Der Weberknecht – auch dieser Name ist insoweit irreführend – hat eine ganz andere Jagdtechnik als die Spinnen entwickelt, die ihre Beute in ihr Netz locken oder ihnen auflauern um sie zu packen und zu töten. Kleine Insekten gehen dem Kanker sprichwörtlich auf den Leim. Mit einer Art Post.it – Technik legt er mit Hilfe seiner Mundwerkzeuge eine Sekretspur aus, auf der seine Beutetiere kleben bleiben. Danach kann er sie dann in aller Ruhe verzehren.
Aber bei so einer auffälligen Statur kann man ja auch leicht selbst zum Opfer von Nachstellungen werden. Um seinerseits nicht gefressen zu werden, setzt sich der Kanker bei Lebensgefahr mit einem Stinksekret zur Wehr, das er seinen Verfolgern entgegenspritzt und mit dem er sich selbst benetzt. Pfui Spinne!
So wie zum Beispiel bei den Eidechsen verfügen einige Arten über die Fähigkeit der Autotomie, worunter man versteht, dass Tiere bei Gefahr einen Körperteil abwerfen um den Angreifer abzulenken und zu entkommen. Bei manchen Weberknechten wachsen abgeworfene Beine sogar wieder nach.
Die naheliegende Frage nicht nur aus der Sicht einer biologisch interessierten Schwiegermutter ist jetzt: Wer webt denn dann die kleinen Netze, die angeblich so viel über die Reinlichkeit einer künftigen Schwiegertochter verraten? Ich tippe mal auf die Zitterspinne, die wegen ihrer langen Beine oft mit dem Weberknecht verwechselt wird. Aber es könnte auch eine Winkelspinne sein, die ihre Falle ausgelegt hat.
Was in der Sauberkeitsfrage wenig Beweiskraft hat, sind andere anatomische Besonderheiten des Weberknechts. Der Kanker besitzt zum Beispiel ein Paar echter Linsenaugen, die wegen des Rundumblicks auf einem Augenhügel sitzen. Die meisten Spinnen haben dagegen nicht nur acht Beine sondern auch acht Augen, neben zwei Hauptaugen sechs Punktaugen, die zum Beispiel als eine Art Licht- oder Distanzsensoren dienen.
Und dann gibt es noch etwas, was man bei einem Aufklärungsartikel über den Weberknecht nicht unerwähnt lassen darf. Im Gegensatz zu den Spinnen hat der Kankermann einen echten Penis, den er zur Begattung durch die Mundwerkzeuge eines Weibchens hindurch in deren Genitalraum einführt, der direkt unter der Mundhöhle des Weibchens liegt. Wäre dieses Wissen früher schon bekannt gewesen, dann würde „Kinkerlitz“ womöglich heute etwas völlig anderes bedeuten.
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