Osterspaziergänge

„Vom Eise befreit sind Ströme und Bäche, Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Tale grünet Hoffnungs-Glück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, Zog sich in rauhe Berge zurück….“. so lauten die ersten Verse des berühmtesten Osterspaziergangs der deutschen Literaturgeschichte. Goethe lässt seinen Faust den Wechsel vom Winter zum Frühjahr beschreiben. Noch ist in der Natur der Goethezeit nichts erblüht, aber die Menschen treibt es in den Worten Fausts bei den ersten warmen Sonnenstrahlen ins Freie hinaus. „Überall regt sich Bildung und Streben, / Alles will sie mit Farben beleben; / Doch an Blumen fehlt’s im Revier, / Sie nimmt geputzte Menschen dafür“[1]

Dank historischer Wetteraufzeichnungen kennen wir die Wetterverhältnisse zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als der deutsche Dichterfürst das schöne Frühlingsgedicht für sein Drama gedichtet hat. Der 10-jährige Temperaturmittelwert 1800 – 1810 lag bei 1,6 Grad plus. In den ersten drei Jahren unseres Jahrzehnts liegen wir bei deutlich über 5 Grad. Selbst in der kühlen Eifel hatten wir in den letzten drei Tagen Tagestemperaturen von bis zu 16 Grad. [2]

Fausts Osterspaziergang sähe heute, eine Woche vor Karfreitag, völlig anders aus. Bei meinen vorösterlichen Spaziergängen durch Felder und Wälder, sehe ich, wie alles spriesst und treibt, und wie weit die Natur selbst in Preußens damaligem Sibirien fortgeschritten ist.

Der Frühling spricht alle Sinne an. Es ist hell und die Sonne wärmt schon. Die Natur ist lauter geworden und auch bunter. Das grosse Orchester der ersten Insekten, der zurückgekehrten Vögel und aus der Winterruhe erwachten Lurche gibt schon die ersten Frühjahrskonzerte. In den blühenden Weiden singen und summen Hummeln und Bienen. Der Nestbau wird schon überall mit Eifer betrieben. Reiher und Raben, Bussarde und Milane tragen grosse Äste in ihren Schnäbeln, um damit ihre Horste zu bauen oder zu renovieren. Man hört das Gurren und Turteln der Ringeltauben und ihr aufgeregtes Geflatter, wenn man ihnen zu nahe kommt. Schon seit Wochen begleiten den Spaziergänger die Rhythmen der Spechte auf seinen Wegen durch den Wald. Und aus den Feldern steigen die Lerchen hoch in den Himmel und jauchzen ihre Trillerlieder.

Die Bäche, die wegen des Regens der vergangenen Wochen ziemlich angeschwollen waren, rauschen wieder in leiseren Tönen. Ihr Kollern und Glucksen bildet die Hintergrundmelodie zu der Vielfalt der Geräusche.

An windgeschützten Stellen beginnt die Vogelkirsche zu blühen, an sumpfigen Plätzen entdeckt man die ersten Blüten der Sumpfdotterblume. Die Blätter des Holunders und des wolligen Schneeballs entrollen oder entfalten sich. An den Rabatten von Feld- und Waldwegen zeigen sich wieder die zarten, gefiederten Blätter der Walderdbeere, das Blattwerk der Königskerze, die welligen, herzförmigen Grundblätter der Großen Klette, die waldgrünen Rosetten der Disteln, die Blüten und Stängel des noch blattlosen Huflattichs, die markanten Blattrosetten der Akelei. Heute habe ich die ersten Schlüsselblumen entdeckt, vorgestern wild wachsende Narzissen und den selten gewordene Seidelbast mit seinen auffälligen purpurfabenen Blüten, die Kissen der wilden Veilchen. Pilze drücken ihre Fruchtkörper durch den Waldboden. Auf den Kalkmagerrasen im Gillesbachtal sind die Küchenschellen erblüht.

Während die Sträucher allmählich ihrer vollständigen Belaubung zustreben, lassen sich die Bäume noch Zeit. Es wird noch etwas dauern, bis wir das alte Kinderlied vom Mai anstimmen können, der die Bäume austreiben lässt. Aber die rostroten Spitzen der Buchenzweige zeigen, dass die Baumknospen es bei dem warmen Wetter kaum erwarten können aufzuspringen.

An den Weihern ertönt das Quaken und Tröten der Frösche und Kröten. In den seichten Uferzonen hat ihr Hochzeitstreiben begonnen. Manche haben ihre Partner noch nicht gefunden, ich entdecke aber auch Krötenmännchen, die sich schon auf ihrem Weg zum Laichgewässer von ihrer Krötendame tragen lassen. Das Laichgeschäft in den Uferzonen ist für die Lurche eine gefährliche Angelegenheit. Hier sind sie leichte Beute für die Reiher. Auch der Anblick meiner Silhouette veranlasst sie, abzutauchen und sich in der Ufervegetation zu verstecken.

Es riecht überall nach Frühjahrserwachen. In den Bärlauch Buchenwäldern rund um Marmagen hat sich ein intensiver Duft von Knoblauch ausgebreitet. Über den Rapsfeldern liegt ein fast schon aufdringlicher Kohlgeruch. Die erdige Scholle der frisch gepflügten Äcker duftet angenehm.

Zitronenfalter liefern sich eine Verfolgungsjagden. Sind es Männchen, die ihr Revier verteidigen oder sind es Balztänze um ein Falterweibchen? Um die Energie der Sonne zu tanken, setzen sie sich mit gefalteten Flügeln auf Gräser und Büsche am Wegrand.

Erdhummelköniginnen suchen nach Mauselöchern für ihre Sommerresidenz und die Aufzucht eines Hummelvolks. Die roten Waldameisen sind wieder aktiv. Auf ihren Straßen schleppen sie Äste und Fichtennadeln heran, um ihren Wohnhügel weiter auszubauen.

Die großen Tiere des Waldes, Wildschweine, Hirsche oder Rehe, machen sich nur indirekt bemerkbar. Im der feuchten Erde der Wege sieht man ihre Fährten, an den Böschungen der Wege erkennt man die Wechsel des Wildes, dort wo große Flächen umgegraben sind, haben Wildschweine nach Nahrung gesucht.

Sonnenlicht und Wärme haben das Erblühen der Natur eingeleitet. Die ewigen Zyklen von Blühen, Wachsen, Reifen und Vergehen haben wieder begonnen. Und wie Goethes Faust möchte ich rufen: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!“ Die eine ist erfüllt von Sorge um die Verletzlichkeit all der Frühlingsboten entlang meiner Wege, die andere mit der allgegenwärtigen, unbändigen Lust am Leben.

[1] Projekt Gutenberg, Szene: Vor dem Tor
[2] Zeitreihe der Lufttemperatur in Deutschland, Wikipedia

Hinterlasse einen Kommentar