Nachbarn kann man sich nicht aussuchen, sagt man. Als ich zusammen mit meiner Familie das Grundstück ausgesucht habe, auf dem jetzt unser Haus steht, war die Frage nach den Nachbarn eher sekundär. Doch es stellt sich immer mehr heraus, dass wir in Bezug auf unsere direkte Nachbarschaft großes Glück gehabt haben. Man hilft sich gegenseitig mit Rat und Tat, man stimmt sich ab, wenn es um die Grenzbepflanzung geht, man trinkt ein Feierabend Bier miteinander.
Nicht nur in menschlichen Siedlungsformen sind gute Nachbarschaften wichtig. Was für die Anthroposphäre (Lebensraum von Menschen) gilt, gilt im besonderen Maße auch in der Biosphäre. Auch hier gibt es unzählige nachbarschaftliche Verflechtungen über Artgrenzen hinweg. Und genau wie bei den Menschen, sind diese Beziehungen zwischen Organismen labil und empfindlich. Seit sich moderne Wissenschaft nicht nur auf die Beschreibung der Arten konzentriert, sondern die Beziehungen und das Zusammenspiel der Arten untereinander in den Fokus nimmt, entdecken wir eine faszinierende Verflechtung des Lebens über und unterhalb des Erdbodens.
Unsere Wahrnehmung von Pilzen beschränkt sich in der Regel auf das, was wir oberhalb des Bodens sehen. Doch Pilze sind mehr als ihre Fruchtkörper, die wir als Speisepilze, Giftpilze, oder auch wegen halluzinogener Bestandteile als „Magic Mushrooms“ kennen. Unter unseren Füßen befindet sich ein Ozean des Lebendigen. Der größte Anteil des unterirdischen Lebens besteht aus kilometerlangen, verflochtenen Pflanzenwurzeln und Pilzhyphen. Unter diesen findet ein ständiges Geben und Nehmen statt. Mit ihrer Fähigkeit zur Fotosynthese gewinnen die Pflanzen Kohlenstoff aus der Luft und tauschen ihn mit den oft gigantischen Pilzgeweben gegen Phosphor und Mineralstoffe aus.
Erst allmählich verstehen wir, dass eine Art nicht für sich alleine überleben kann. Jede Pflanze, jedes Tier, jeder Pilz, jedes Bakterium, jede Flechte steht im permanenten Austausch mit ihrer Umgebung. Unter diesen komplexen Beziehungen finden sich ausgesprochene Parasiten, die von anderen Lebensformen nur profitieren, aber es gibt auch die Mutualisten, die solche Beziehungen zu einer ausgesprochenen Win-Win- Situation werden lassen. Wir wissen wenig darüber.
Das Zusammenleben von Pilzen und Pflanzen ist nicht immer eine feste Symbiose im klassischen Sinn, sie gleicht eher einer offenen Beziehung. Die wenigsten Pflanzen verbreiten sich aus eigener Kraft. Wind, Wasser, Tiere und auch der Mensch sorgen dafür, dass Pflanzen sich nach dem Zufallsprinzip verbreiten. Und wo immer ein Samenkorn keimt, trifft es auf einen Boden, der hinsichtlich seiner Besiedlung mit Pilzen und anderen Bodenorganismen sehr unterschiedlich sein kann. Und das hat Folgen für den speziellen Charakter einer Pflanze. „Die unzähligen mikroskopischen Wechselbeziehungen zwischen Pilzen und Wurzeln finden ihren Ausdruck in Form, Wachstum Geschmack und Geruch der Pflanzen“ schreibt Merlin Sheldrake in seinem Buch „Verwobenes Leben“.
Forscher haben z.b herausgefunden, dass es einen Unterschied macht, welcher Pilz eine Partnerschaft mit mit einer Pflanze eingeht. Hummeln werden von den Blüten von Erdbeerpflanzen stärker oder schwächer angezogen, je nachdem mit welchen Pilzarten die Pflanzen herangewachsen waren. Je nach Pilzumgebung bringen Pflanzen mehr Früchte hervor als andere. Auch das Aussehen der Beeren änderte sich, je nachdem welcher Pilz der Partner der Pflanze war
Langsam stellt sich die Erkenntnis ein, dass es nicht in erster Linie die Mineralstoffe in den Böden sind, die das Gedeihen, das Wachstum und den Geruch von Pflanzen mitbestimmen. Mindestens so entscheidend für das Gedeihen ist es, auf welche Pilze ein Keimling trifft und wie er sich sich mit den unterschiedlichsten Pilzen arrangiert.
Pilze sind nach den Tieren das zweitgrößte Organismenreich der Erde. Die globale Pilzvielfalt wird auf 2,2 bis 3,8 Millionen Arten geschätzt, von denen unsere Wissenschaft nur einen Bruchteil überhaupt kennt. Zu den kleinsten gehören die einzelligen Hefepilze und der größte unter ihnen ist ein Hallimasch im Malheur National Park in Wisconsin, USA. Er ist 600 Tonnen schwer, bedeckt eine Fläche von 9 Quadratkilometern und ist 2400 Jahre alt. Was wir von ihm an der Erdoberfläche sehen, sind nur die Fruchtkörper des Organismus.
Pilze leben außerhalb und innerhalb anderer Organismen, sie besiedeln Böden und Gewässer, die Hautoberfläche höherer Organismen wie dem Menschen, aber auch deren inneren Organe. Sie gehen enge Symbiosen mit Algen ein und besiedeln so selbst die lebensfeindlichsten Räume als Pioniere des Lebens.
Pilze sind omnipräsent. Sie haben erstaunliche Fähigkeiten. Sie ‚fressen‘ Gestein, sie produzieren Erde, verdauen Umweltgifte, ernähren und töten Pflanzen, sie schützen sie vor Krankheiten, verfolgen und vertilgen sogar aktiv Nematoden, überleben im Weltraum, ja, man schreibt ihnen inzwischen sogar so etwas wie eine Pilzintelligenz zu.
In der Welt der Pilze gibt es zahlreiche Hoffnungsträger, die uns helfen könnten, Umweltsünden der Vergangenheit wieder in Ordnung zu bringen. Zitat aus Merlin Sheldrakes faszinierenden Buch über diese vielgestaltige Lebensform: „Pilze sind Stoffwechselzauberer. Sie können Nahrung auf geniale Weise finden, einsammeln und verwerten. … mit Cocktails aus hochwirksamen Enzymen und Säuren können Pilze einige der hartnäckigsten Substanzen auf der Erde abbauen, vom härtesten Bestandteil des Holzes, dem Lignin bis hin zu Gestein, Rohöl, Polyurethan und dem Sprengstoff TNT. Kaum eine Umwelt ist ihnen zu extrem.“ Sogar für verstrahlte Flächen wie rund um den Kernreaktor Tschernobyl besteht dank Pilzen eine Hoffnung, das Gelände irgendwann mal zu renaturieren. Strahlungstolerante Arten nutzen radioaktive Teilchen als Energiequelle, sowie es Pflanzen mit der Sonnenenergie tun.
Mit ihren Hyphen genannten Pilzfäden bohren die Alleskönner sich in die Wurzeln der Pflanzen und bilden so die Mykorrhizen, in denen sie den Austausch von Nährstoffen betreiben. Pilze sind die Verbindung zwischen Atmosphäre und Boden. 90 % aller Pflanzen sind auf diese Mykorrhiza-Beziehungen angewiesen. Mykorrhiza Pilze liefern einer Pflanze bis zu 80% des Stickstoffs, den sie brauchen und nahezu 100% des Phosphors.
Pilze verbinden die mineralische Welt mit der Welt der höheren Organismen. Und das tun sie seit 715 bis 810 Millionen Jahren. Pilze und möglicherweise Symbiosen aus Pilzen und Algen bereiteten dem Landleben den Weg.
Das heutige Wissen über Pilze lässt uns mit zwei Erkenntnissen zurück, einer alten und einer neuen. Die alte hat Alexander von Humboldt 1845 in Worte gefasst: „In dem ewigen Treiben und Wirken der lebendigen Kräfte führt allerdings jedes tiefere Forschen an den Eingang neuer Labyrinthe.“
Die neue Erkenntnis muss lauten: „Alle Lebensformen sind in Wirklichkeit keine Dinge sondern Prozesse. “ (Merlin Sheldrake)
Bildinformation: Ein Buchen-Schleimrübling wächst auf Ästen und dem Stamm einer abgestorbenen Rotbuche. Sein Mycel zersetzt das Lignin (lateinisch lignum ‚Holz‘), ein Makromolekül), das dem harten Holz des Baumes seine Festigkeit gibt. So können allmählich weitere Saprobionten (Organismen, die die in toter, sich zersetzender organischer Substanz leben) nach und nach das Totholz abbauen und neuem Leben als Bausteine zuführen. (eigene Aufnahme)